Mapping the Frontier: Die Nationen-Grenze als künstliches und künstlerisches Objekt/Symbol
Das Kunstwerk Solid Sea (2002) des Kollektivs Multiplicity sieht das Mittelmeer als eine Metapher für einen „befestigten“ Kontinent mit Seerouten verschiedenster Individuen. Der interdisziplinäre und intermediale Zugang zeigt eine neue Landkarte mit dem Fokus auf das Wasser, wobei das Mittelmeer mit als eine zum Raum gewordene Grenzlinie gedacht wird.
Eine Kartografie des Widerstands[1] ist Bouchra Khalili’s achtteilige Videoarbeit Mapping Journey (2008-2011), bei der die Wege individueller Migrant_innen wie eine Sternenkarte jegliche Grenzen überwinden, jedoch Borderland Europe[2] mit seinen Ausgrenzungsmechanismen mehr als deutlich zu Tage treten lässt. Im Gegensatz zur neoprimitivistischen Romantisierung von Grenzüberschreitung[3] problematisieren Künstler_innen wie Multiplicity oder Khalili den beschwerlichen Übergang von Grenzen und dessen Komplexität anhand von multiperspektivischen Dokumentationen einzelner Schicksale mit der Herausforderung, die Migrant_innen nicht als Opfer darzustellen.
Die symbolische Verschiebung und Überquerung von Nationengrenzen anhand der künstlerischen Bearbeitung der Landkarte dient einer Verschiebung statischer Kategorien von Nation und nationaler Identität. Javier Téllez antwortet in One Flew over the Void (Bala perdida) (2005) humorvoll dieser statischen Restriktion der Grenzziehung, indem diese zwar als Herausforderung und Hindernis, aber gleichzeitig als Einladung zur spektakulären menschlichen Kanonenkugel angesehen und die Grenze zwischen den USA und Mexiko zu einem Ort einer Zirkusattraktion transformiert wird. Die zwischen 2002 und 2011 entstandenen Kunstwerke behandeln das Thema der Flucht und Migration lange bevor es in den Fokus der aktuellen Medienaufmerksamkeit gerückt ist. Hinsichtlich der Thematik haben sie nichts an Aktualität eingebüßt, interessant sind aber die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Thema der Grenzüberschreitung und der Frage nach der jeweiligen Sichtbarmachung von Grenze sowie ihrer Transformation in den Bildern.
Bilder von Migration sind nicht nur Bilder von reisenden Menschen, sondern auch der Orte. Mitchell spricht von kontextübergreifenden Bildern von Migration, die nicht nur der Kunst zuzurechnen sind. Sie alle bilden verschiedene Räume ab, die für migratorische Bewegungen stehen.[4] Nimmt man in diesem Zusammenhang Bilder von Grenzen oder Grenzübergängen in den Blick, entstehen Darstellungen von Orten, an denen die jeweils unterschiedlichen Grenzpolitiken dieses bestimmten Ortes ausgeführt werden. Das Thema meiner Recherche ist das Verhältnis zwischen Grenzpolitik und ihrer Darstellungsstrategien in der Kunst. Dabei interessiert weniger der Vergleich oder die Abgrenzung zu Reportage- oder Nachrichtenberichten als vielmehr eine kunstimmanente Diskussion um Darstellung von Grenzen als besondere Räume und der Bewegung von Personen darin. Eine Grenzüberschreitung besteht nicht nur aus Personen, die eine Schwelle überwinden, sie macht zugleich ein System von Reglementierungen sichtbar, das an diesem Ort eingesetzt wird. Das heißt, eine Grenze wird nur dann in ihrer Funktion als Grenze sichtbar, wenn die Idee einer Grenzüberwindung vorhanden ist. Migrationsbewegungen und deren Phänomene von Mobilität, Emigration und Immigration stellen geografisch und politisch gesetzte und gelebte Grenzziehungen infrage und bedeuten eine Verschiebung hinsichtlich nationaler Selbstverständnisse und kollektiver Identitäten.[5] In Auseinandersetzung mit Homi Bhabhas Konzept der Hybridisierung von Kultur und seiner Kritik an einer linearen Narration von Nationen und deren holistische Auslegung von Kultur und Gemeinschaft[6] lassen sich Kunstwerke anhand ihrer Strategie im Umgang mit Grenzen als eine (visionäre und imaginierte) Alternative zu citizenship und migration sehen.[7]
[1] http://www.arsenal-berlin.de/de/kino-arsenal/programmarchiv/einzelansicht/article/3533/2804//archive/2012/july.html, Stand: 08.12.2015
[2] Étienne Balibar, Europe as borderland, in: Ausst.kat Projekt Migration, Kölnischer Kunstverein, Köln 2005, S. 202-209.
[3] Vgl. dazu T. J. Demos, The Migrant Image, S. 4 und 11-15. Demos kritisiert angesichts der aktuellen Situation von Flüchtlingen ihre symbolische Aufladung als wie z.B. von Hanna Arendt geschilderte „Vorreiter der Nationen“ oder „Kämpfer gegen die Repräsentation von Nationenidentität und Volkszugehörigkeit“ nach Negri und Hardt.
[4] „Images of immigration crucially involve the places, spaces and landscapes of immigration, the borders, frontiers, crossings, bridges, demilitarized zones and occupied territories that constitute the material and visible manifestations of immigration law in both its static and dynamic forms.“, W. J. T. Mitchell, Migration, Law, and the Image. Beyond the Veil of Ignorance, in: Mathur, Saloni, The Migrant’s Time. Rethinking Art History and Diaspora, Sterling und Francine Clark Institute, 2011, S. 64f.
[5] Vgl. Burcu Dogramaci, Migration als Forschungsfeld der Kunstgeschichte, in: Burcu Dogramaci (Hg.), Migration und künstlerische Produktion. Aktuelle Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 230.
[6] Homi Bhabha, The Location of Culture, London 1994, S. 142.
[7] Vgl. T. J. Demos, The Migrant Image. The Art and Politics of Documentary during Global Crisis, Durham 2013, S. 20.